Zitat von
L with
Ich habe den Thread jetzt gerade erst entdeckt und ich poste mal ohne Kenntnis der Postings.
Ich werde bei diesem Thema sehr schnell emotional, weil ich nicht nur eine fachliche Meinung dazu habe, sondern selber Betroffener bin.
Bei ADS und ADHS verhällt es sich leider wie bei einer Vielzahl psychischer Störungen: Sie werden wahlweise stigmatisiert oder verniedlicht. Generell besteht in der Gesellschaft eine Tendenz dahingehend, dass es ein Problem in Abhängigkeit vom eigenen Weltbild zu geben haben darf oder nicht. Psychische Störungen hat es da tendenziell eher nicht zu geben: Der Depressive soll sich mal nicht so hängen lassen, der AD(H)Sler sich zusammenreißen.
In letzterem Fall, und da spreche ich jetzt vorrangig als Betroffener denn als Psychologe, wird die Argumentation häufig extrem auf einfache und platte Wahrheiten verkürzt.
Wenn ich schon höre, dass sich Kinder früher austoben durften und sie heute als krank gelten, kriege ich eine leichte Krise. Auch, wenn von "Ruhigstellen" mit Methylphenidat (Ritalin/Medikinet) die Rede ist.
Da ich es selber einnehme behaupte ich mal aussagen zu können, dass ich mich weder als ruhiggestellt empfinde, noch als gefügiger Roboter.
Solche Zerrbilder kommen eigentlich immer von Leuten, die selber keine Sekunde ihres Lebens nachfühlen mussten, was eigentlich im Körper eines AD(H)Slers vorgeht.
Wenn es um das Wohl der Kinder geht, so wird zudem die Sichtweise völlig verkürzt auf rein körperliche Nebenwirkungen von Methylphenidat. Nicht, dass diese nicht berücksichtigt werden sollten, aber sie sind nur die eine Hälfte der Wahrheit.
Die Tatsache ist, dass mit schöner Regelmäßigkeit die langfristigen psychosozialen Folgen unter den Tisch fallen. Wenn also der oder die Betroffene sich der ewig gleichen Erfahrung ausgesetzt sieht, nicht mit den anderen mithalten zu können. Wenn irgendwann das Verständnis auch schnell zu Ende ist. Wenn der Schulabschluss vermasselt wird und auch die berufliche Aus- und Weiterbildung flöten geht. Stehen auch dann die Besserwisser bereit und helfen ganz praktisch? Natürlich nicht. Dann war er oder sie halt ein Taugenichts oder willensschwach.
Diese Störung zu haben bedeutet aber, dass man sich tatsächlich nicht zusammenreißen kann.
Die Konzentration kann so unglaublich limitiert sein, dass man wahlweise nach kurzer Zeit in extreme Müdigkeit verfällt oder aber sich nicht mehr halten kann und aufstehen muss.
Besonders bei Aufgaben, die ruhiges Sitzen und Konzentrieren erfordern, empfinde ich dies als blanke Folter.
Wenn ich beispielsweise längere Fachtexte lesen muss, dann baut sich in mir eine innere Spannung auf, die mich förmlich innerlich zerreißt. Es ist, als würde ich innerlich kochen. Die Augen tanzen wie wild über den Text, es ist, als würde man mir mit einem Magneten die Gedanken aus dem Kopf saugen. Wenn ich einen schlimmen Tag habe, schaffe ich es nicht, einen einzelnen Satz (!) zu lesen. Ich muss dann aufstehen und mich bewegen! Tausend Sachen werden gleichzeitig begonnen, nichts davon zu Ende gebracht.
Damit nicht genug. Die extreme Vergesslichkeit, die tonnenweisen Flüchtigkeitsfehler, die direkt vor der eigenen Nase passieren, bringen einen fast zur Verzweiflung.
Natürlich hört dann das Verständnis der Umwelt auf, wenn es um die Schwierigkeiten geht, die man durch seine Störung im Leben hatte: "Na da hat er sich natürlich auch eine bequeme Ausrede zurecht gelegt" und "Wenn man will, dann kann man auch" sind nur die üblichsten Aussagen.
Besonders pikant ist dies in der extremen Leistungsgesellschaft der Hochschule, wo man für Professoren schnell nur noch der auszusiebende akademische Restmüll ist, weil man es eben nicht geschafft hat, sich durch die 2000 Seiten Fachtext im Semester zu quälen.
Für mich war das Studium ein einziger Spießrutenlauf und in jedem einzelnen Semester habe ich ernsthaft überlegt, aufzuhören.
Ritalin ist nicht die Lösung, aber ein bedeutender Baustein.