arte, 19.00 - 19.45 (45 min.)
Expedition ins Gehirn
Gedächtnis-Giganten (1/3)
Die dreiteilige Dokumentationsreihe "Expedition ins Gehirn" beschäftigt sich mit den drei herausragenden Forschungsbereichen um das Phänomen der so genannten Savants, hoch begabter Menschen, die extrem ungewöhnliche Fähigkeiten besitzen.
Howard Potter ist nicht verwandt mit Harry Potter. Dafür sind seine Zauberkunststücke ganz real. Howards Talent wurde entdeckt, als er Erbsen zählte. Als Neunjähriger saß er am heimischen Mittagstisch in Bournemouth und beschwerte sich, dass sein Bruder "zwei Erbsen mehr" auf dem Teller habe. Und zwar nachdem er einen kurzen Blick auf beide Teller geworfen hatte. Die Eltern zählten nach und stellten verblüfft fest: Howard hat völlig Recht. Howard Potter ist ein Savant, wie Hirnforscher sagen, ein "Wissender". Weltweit gibt es nicht einmal 100 erkannte und hoch begabte Savants. "Inselbegabungen" wie die von Howard gehen meist auf einen Geburtsfehler zurück, auf fehlerhaft verkabelte Nervenzellen im Gehirn. Savants sind mit ihren mysteriösen Fähigkeiten faszinierende Objekte der Hirnforschung. Savants merken sich grenzenlos Zahlen, Daten oder Relationen, so selbstverständlich wie andere Rad fahren oder spazieren gehen können. So können schon einige mit sechs Jahren Klavier spielen und wie Mozart komponieren oder die kompliziertesten Gebäude anschauen und sie anschließend aus dem Gedächtnis aufzeichnen, oder sie rechnen die 33. Potenz einer zweistelligen Zahl in wenigen Sekunden im Kopf. Sie erinnern sich in Furcht erregender Präzision an Details jedes einzelnen Tages in ihrem Leben. Woher kommt dieses unglaubliche Wissen? Steckt etwas davon in jedem von uns? Und wie könnten Normalhirne diese schlafenden Fähigkeiten wecken und anzapfen? Dr. Darold Treffert, seit den 60er Jahren der weltweit führende Savants-Experte, sagt: "Die Savants stellen ein einmaliges Fenster ins menschliche Gehirn dar.Solange wir das Savant-Syndrom nicht verstehen, werden wir niemals verstehen, wie unser Gehirn funktioniert."
(1): Gedächtnis-Giganten
Orlando Serrell aus Virginia war zehn Jahre alt, als er von einem Baseball an der Schläfe getroffen wurde. Er verlor für kurze Zeit das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kam, schien alles wie zuvor. Ein Jahr später bemerkte Orlando, dass er sich seit dem Tag des Unfalls an jedes Detail jedes Tages in seinem Leben erinnern konnte. An das Wetter, die Speisenfolge, welche Farbe die Socken seiner Schwester hatten und was es im Fernsehen gab. Orlando, inzwischen über 40, geht es blendend, aber das Archiv in seinem Kopf nimmt von Tag zu Tag zu. Kim Peek aus Salt Lake City ist der "wahre Rain Man", die Vorlage zu dem Spielfilm mit Dustin Hoffman in der Titelrolle. Er liest nicht, er scannt Bücher. Das visuelle System seines Gehirns erlaubt ihm offenbar, den jeweiligen Inhalt einer Buchseite in etwa acht Sekunden zu speichern. Er speichert beliebige Daten wie auf einer internen Festplatte: Melodien, Namen, historische Jahreszahlen, den Kalender, das komplette Fernsehprogramm, alle Telefonvorwahlen der USA, das Straßennetz aller Staaten. Doch Kim bezahlt einen hohen Preis für seine Fähigkeiten: Als Kind galt er als geistig schwer behindert. Mit über 50 kann der Mega-Savant, wie ihn die Wissenschaftler bewundernd nennen, nicht allein für sich sorgen. Auch Howard Potter, der als Kind auffiel, weil er exakt die Anzahl von Erbsen auf Tellern kalkulieren konnte, ist mit 40 auf die tägliche Hilfe seiner Mutter angewiesen. Howard zieht mühelos Quadratwurzeln, liebt Primzahlen und vor allem das endlose Reservoir der Fußballresultate. "Die Begeisterung, wenn jemand ein Tor schießt", erzählt seine Mutter, "ist Howard fremd.Er interessiert sich nur für die Zahlen." Woher kommt das Gedächtnis? Was führt dazu, dass sich Menschen manche Dinge merken können und manche sofort vergessen? Welche Filtersysteme sorgen für diese Auswahl? Aber vielleicht speichern Menschen alles, wie Prof. Gerhard Roth von der Universität Bremen sagt, und müssen nur den Mechanismus finden, um wie ein Savant die Geheimkammern zu öffnen.
Die dreiteilige Dokumentationsreihe zeigt die heimlichen Stars unter den Savants und die international führenden Wissenschaftler dieses Forschungsgebietes. Erst seit kurzem ermöglichen neue Techniken, meist mit extrem hochauflösenden Computer-Tomografien, den Blick durch die Schädeldecke. Neurobiologen erzielten in den letzten Jahren gigantische Fortschritte. Wenn es gelingt, die sagenhaften Begabungen der Savants auf normale Menschen zu übertragen, der Planet würde von Genies bevölkert - oder von Monstern. Alle drei Folgen präsentieren erstmals 3-D-Animationen aus den echten computertomografischen Daten der Protagonisten der Reihe "Expedition ins Gehirn". Dieses neue Verfahren der realen Gehirn-Darstellung wird von New Yorker Spezialisten zum ersten Mal für das Fernsehen angewendet. Die Reihe wurde komplett im vollen High-Definition-Format (HDTV) gedreht, also in vierfach höherer Auflösung im Vergleich zu normalen Fernsehbildern. Sie versteht sich nicht als kühler Wissenschafts-Journalismus, sondern stellt die heimlichen Stars unter den Savants in den Mittelpunkt. Die bezahlen ihre genialen Fähigkeiten oft mit Autismus und anderen Behinderungen oder Einschränkungen. "Expedition ins Gehirn" hat weltweit die wichtigsten Wissenschaftler zum Savant-Phänomen befragt. Darunter den führenden deutschen Hirnforscher Prof. Gerhard Roth von der Universität Bremen, der neben Dr. Darold Treffert wissenschaftlicher Berater der Dokumentationsreihe war.
Regie:
Freddie Röckenhaus
Petra Höfer