Der Hund unter dem Baum
Es war bitterkalt in dieser Nacht zum 18. Dezember 2010.
Dass dies meine letzte Nacht an der Kette alleine unter meinem Baum sein sollte, wusste ich damals nicht. Auch nicht, wie lange ich schon dort lebte. Ich hatte schon lange kein Futter mehr von meinen Menschen bekommen und war fast am Ende meiner Kräfte. Es schneite und ich rollte mich in meiner Kuhle, die ich mir unter dem Baum gegraben hatte, zusammen. Ich konnte nicht mehr. Ich wollte nur noch schlafen, für immer schlafen, damit der Schmerz in meinem Bauch aufhörte.
Als es hell wurde, hörte ich plötzlich Menschen zu mir sprechen. Fremde Menschen, die freundlich zu mir waren und mich von meiner Kette befreiten. Sie trugen mich in ein großes weißes Auto. In diesem Auto war noch ein Hund, der mir irgendwie vertraut vorkam. Ich wusste, wir kennen uns, aber ich hatte während der Zeit alleine unter meinem Baum vergessen, woher.
Die Menschen brachten uns an einen Ort mit vielen anderen Hunden. Dort war es wärmer und wir bekamen etwas zu fressen. Hände streichelten uns. Trotzdem hatten wir Angst. Jemand sprach zu mir und sagte: Du heißt jetzt Nelson. Wir werden uns nun um Dich und Nápolyi kümmern. Du wirst sehen, alles wird gut.
Nach einiger Zeit ging es Nápolyi und mir besser. Aber wir wurden getrennt, jeder von uns kam in ein anderes Gehege mit fremden Hunden. Wir konnten uns nur noch hören, wenn wir uns gegenseitig riefen. Ich begann wieder, sie zu vergessen. Sie erschien nur in meinen Träumen.
Ab und zu kam dieses große weiße Auto, in das jedes Mal einige Hunde einstiegen, die ich nicht wieder gesehen habe. Sie fuhren zu ihren Familien, wurde erzählt. Mich nahm es nicht mit. Wer wollte auch einen Hund wie mich haben, ich war nicht mehr jung und dazu noch fast ein Schäferhund, einer von unendlich vielen. So verging eine lange Zeit.
Es wurde sehr heiß, unerträglich heiß, aber ich habe die Hitze überstanden. Und dann kam auch schon der nächste Winter. Ja, es wurde wieder Dezember und ich war immer noch an dem Ort mit den vielen Hunden. Aber ich hatte wenigstens genug zu essen. Ich habe gemerkt, dass es mir nicht gut geht, aber ich habe es niemandem gezeigt. Ich durfte nicht schwach sein. Schwäche kann tödlich sein, das habe ich gelernt.
Es war wieder dieser 18. Dezember, der mein Leben – der unser Leben - verändern sollte. Das wusste ich aber noch nicht. An diesem Tag fand mich meine Familie. Mein Frauchen hat mir später erzählt, dass sie spät abends vor dem Computer gesessen hatte und immer wieder meine Bilder anschauen musste. Sie ließen sie nicht mehr los. Ebenso wie die von Nápolyi, dem Hund, der mit mir zusammen in das Haus mit den vielen Hunden gereist war. Aber sie hatten schon einen Hündin, daher konnte nur einer kommen. So wurde ich ausgewählt.
Im Februar wurde ich aus dem Gehege geholt und in eine große Box gesperrt. Ich saß nun plötzlich selbst in dem großen weißen Auto. Ich hatte Angst. Die Reise dauerte lange und als ich wieder ausstieg, sah ich sie, meine Familie. Ich habe gespürt, dass sie genau so viel Angst hatten wie ich.
Nun, was soll ich erzählen von der ersten Zeit in meiner Familie? Ich musste viele Dinge lernen. Dabei hat mir Nelly, die schon lange in der Familie lebte, geholfen. Und ich habe mir große Mühe gegeben, alles richtig zu machen. Meine Menschen waren so stolz auf mich und ich merkte, dass sie anfingen, mich zu lieben, jeden Tag ein bisschen mehr. Ich liebte sie auch.
Dann konnte ich endlich loslassen. Es ging mir schon lange nicht gut und ich wurde krank. Wie krank, das stellte sich erst später heraus. Aber ich habe es geschafft.
In dieser Zeit begann ich viel zu träumen. Von der Zeit in dem Haus mit den vielen Hunden und von dem einen Hund, den ich vergessen hatte und der mir doch so fehlte. Ich träumte nachts und rief im Traum nach ihr, ich heulte meinen Schmerz hinaus wie ein Wolf. Ich erschreckte meine Menschen damit fast zu Tode. Ich träumte auch tagsüber von ihr. Ich verbrachte endlose Stunden unter einem Baum im Garten, der wieder mein Baum geworden war, mein Gefängnis. Mein Baum, unter dem ich hin und her lief, als sei ich noch an der kurzen Kette, wieder und wieder. Ich konnte nicht aufhören. Mein Baum, unter dem ich in meiner Kuhle lag und an die dachte, die ich doch eigentlich vergessen hatte. Ich wurde immer ruheloser. Meine Menschen dachten, es sei meine Krankheit, die mich so quälte.
Aber auch mein Frauchen begann zu träumen, wieder und wieder. Von Nápolyi, die am selben Tag im das Tierheim angekommen war. Die, ebenso wie ich, fast verhungert wäre. Deren Schicksal doch irgendwie mit meinem verbunden war. Die immer noch keine Familie gefunden hatte ….
Eines Tages fuhren meine Menschen mitten in der Nacht los. Das hatten sie noch nie gemacht. Als sie zurück kamen und Herrchen mich und Nelly abholte, war es schon fast hell. Ich war sehr verwundert, ein Spaziergang um diese Zeit? Da sah ich sie, den Hund, der mir wieder und wieder in meinen Träumen erschienen war und den ich so verzweifelt gerufen habe. Sie kam auf mich zu und ich musste mich erst einmal setzen. Sie putzte mir das Gesicht und ich wusste, alles wird gut. Alles ist gut.
Wir sind wie Zwillinge, Nápolyi und ich. Wir sind immer zusammen. Wir sind glücklich. Woher ich sie kenne, ist mir immer noch nicht eingefallen. Mein Frauchen glaubt, dass wir zusammen auf einem Hof gelebt haben. Vielleicht. Es ist auch nicht mehr wichtig.
Ich habe jetzt fast alles, was man sich als Hund nur wünschen kann. Fast alles…
In dem großen Haus mit den vielen Hunden sind noch so unendlich viele Hunde und Katzen, für die wieder ein weiterer Winter angebrochen ist. Ein Winter ohne streichelnde Hände und ohne ein weiches Körbchen, ohne die Liebe einer Familie.
Auf der ganzen Welt gibt es unzählige Tiere, die gequält, verfolgt und getötet werden, weil niemand sie haben will. Weil sie überflüssig sind. Weil es zu viele gibt. Die keine Chance auf Leben haben.
Mein Wunsch ist: bitte sorgt für sie, lasst sie nicht im Stich, gebt ihnen eine Zukunft, so wie ihr es für uns getan habt. Hört auf eure Herzen, sie verstehen mehr als euer Verstand. Dies wünsche ich mir. Sonst bin ich glücklich. Sind wir glücklich. Wir sind endlich Zuhause angekommen. Für immer!
Nachtrag:
Ob Nelson und Nápolyi tatsächlich zusammen gelebt haben, konnte ich bis jetzt nicht herausfinden. Vielleicht kennen sie sich auch aus der Quarantäne. Sicher ist, sie wurden am selben Tag aus schlechter Haltung befreit und kamen zusammen am 18. Dezember 2010 ins Tierheim, beide waren völlig abgemagert. Wie auch immer es war, sie scheinen sich erkannt zu haben. Es war eine herzzerreißende Begrüßung.
Wir haben auf einer älteren Seite des Tierheims ein Video gefunden, dass ganz sicher Nelson in seiner Auffindesituation zeigt. Er war unter einem Baum an einer kurzen Kette angebunden. Die Bewegungen, die der Hund in dem Video ausführt, waren mit denen, die er anfangs bei uns gezeigt hatte, identisch.
Seit dem Tag von Nápolyis Ankunft hat Nelson nie wieder unter dem Baum gelegen und in die Ferne gestarrt. Auch sein stundenlanges, stereotypes Umkreisen des Baumes hat er nie wieder gezeigt. Wir habe keine andere, logische Erklärung dafür.
Nelson und Nápolyi haben eine an sich als harmlos geltende Art von Filarien mitgebracht. Bei Nelson haben sie aber untypischerweise zu einer massiven Entzündung der Aorta geführt. Einen weiteren Winter im Tierheim hätte er sicher nicht überlebt. Auch Nápolyi ist nicht ganz gesund und wir sind froh, dass sie nicht mehr frieren muss.
Sie sind beide nicht mehr jung, aber voller Lebensfreude. Sie genießen jeden Tag. Wir hoffen, dass sie uns noch viele Tage begleiten werden, sie haben unser Leben reicher gemacht. Wir trauern um jede Stunde, die wir nicht mit ihnen verbracht haben. Dass sie trotz ihrer Vergangenheit so vertrauensvoll auf uns zugegangen sind, hat uns tief beschämt. Sie werden immer in unseren Herzen sein.
Sabine Mönnichs mit Nelson und Nápolyi, die euch allen frohe Weihnachten wünschen und einen guten Start ins neue Jahr!