Arnd Zeiglers Gedanken zur WM:
"Ich habe nun schon mehrfach und gleich zu Beginn der WM kundgetan, dass ich mit dieser Weltmeisterschaft erheblich fremdle. Daran hat sich leider in den Wochen seit dem Eröffnungsspiel nichts geändert. Im Gegenteil. Ich habe mir viele Gedanken gemacht, woran das liegen könnte. Eins vorweg: Es liegt nicht am Abschneiden Deutschlands. Das passt wie der ganze Rest komplett zu einem großen, ganzen Gesamtbild.
Aber lasst mich bei den wenigen positiven Dingen beginnen. Das geht nämlich schnell. Überdurchschnittlich gut, überrraschend gut, sind bisher die Schiedsrichterleistungen allgemein und auch die Anwendung des "Videobeweises". Das hat man nicht unbedingt so vorhersehen können. Erfreulich ist außerdem das Ausbleiben von schweren Ausschreitungen. Hat man auch nicht unbedingt erwartet.
Die schlechte Nachricht: Das war es dann auch schon.
Nun zum Sport. Bislang galt die Fußball-WM 1962 in Chile als Extrembeispiel einer grottenlangweiligen WM voller sportlicher Armut. 1962 sahen die Fußballfans in aller Welt grotesken Mauerfußball, wenig Tore, Tretereien, Schauspielerei im Übermaß und eine brasilianische Elf, die problemlos Weltmeister wurde, ohne wirklich überragen zu müssen.
Die WM 2018 ist auf dem Weg, das alles zu toppen. Wo soll man anfangen?
Wir haben 56 Spiele hinter uns. Wieviele davon waren gut? Fünf? Sechs? Wieviele waren schlecht? Dreißig? Vierzig?
Wieviele der 32 Teams dieser WM wollten wirklich Fußball spielen? Ich komme auf sechs oder sieben. Die restlichen Mannschaften haben weitestgehend versucht, die Spiele irgendwie runterzuspielen, ohne zu Schaden zu kommen.
Daraus resultierte ein Fußball, den ich in vielen Jahren so schematisch, so eintönig, so vorhersehbar, so seelenlos und blutarm noch nie gesehen habe. Um es deutlich zu sagen: Wäre Fußball immer so wie während der Gruppenspiele dieser WM, wäre ich vermutlich nie Fußballfan geworden. Popmusik ist auch ein schönes Hobby.
Was haben wir also bisher während dieser WM sportlich sehen können? Innovationen - leider keine. In der Regel bestanden die Spiele aus einer Mannschaft, die sich 85 Minuten im eigenen Strafraum einbetoniert hat und einer anderen Mannschaft, die dagegen kein gutes Rezept fand. Folglich wurde von der besseren der beiden Mannschaften stupide um den Strafraum herumgespielt, mit Laufwegen und Ballstaffetten, die man auch vor dem Spiel hätte verbindlich festlegen können. Beendet wurde dieses Gespiele in aller Regel irgendwann entnevt mit einer halbgaren Flanke aus dem Halbfeld, Nähe Strafraumeck. Dass Spieler bis zur Grundlinie durchkommen um von dort aus für Gefahr zu sorgen, wurde scheinbar unbemerkt abgeschafft.
Bei bisher jeder WM konnte man nach der Vorrunde eine grandiose Zusammenfassung der schönsten Szenen und Tore zusammenstellen. Wieviele tolle Tore haben wir bisher gesehen? Ich komme auf fünf oder sechs. Eine DVD mit den tollsten Toren der WM 2018 hätte bislang eine Länge von zwei Minuten. Gab es tolle Distanzschüsse, großartige Spielzüge, atemberaubende Einzelleistungen? Ja, gab es. Alles zusammengenommen fallen mir da ca. vier Szenen ein. Den Rest habe ich wohl verdrängt.
Leider klappt das mit dem Verdrängen bei anderen Phänomenen nicht ganz so gut. Die WM 2018 ist ein Festival der Theatralik und Schauspieleinlagen. Es scheint quer durch alle Teams ein Konsens zu sein, sich bei jeder Kleinstberührung irgendwo am Körper, egal wo, generell am Boden zu wälzen und schreiend die Augen zu halten. Godfather dieser Bewegung ist selbstverständlich Neymar. Ein begnadeter Fußballer, der seine Karriere in einigen Jahren als steinreicher Mann mit vielen gewonnenen Titeln beenden wird, aber nicht als große Spielerpersönlichkeit, an die man sich noch in Generationen erinnern wird. Er wird kein neuer Pelé. Er wird ein neuer Robinho. Wenn er Glück hat und gesund bleibt, was ja momentan oft nicht so scheint.
Der eingangs gelobte Videobeweis birgt leider auch eine große Schattenseite dieser WM. Jenseits der VARs, die einen fast durchweg tollen Job machen (im Gegensatz zur Bundesliga greifen sie lieber einmal zu selten ein als zweimal zu oft - das ist scheinbar das ganze Geheimnis!) ist das Fordern des Videobeweises eine der ganz großen Modeerscheinungen dieser WM. Leider. Neuerdings wird zunächst der Schiedsrichter angebrüllt und danach ein Videobeweis gefordert. Viele Stürmer versuchen beim Eindringen in den Strafraum offenbar nicht mehr, in Tornähe oder gar zum Abschluss, sondern plausibel zu Fall zu kommen, um anschließend Sekundenbruchteile später mit den Händen schreiend ein Viereck in die Luft zu malen. Wäre ich Herr FIFA, dann hätte ich nach den ersten WM-Spielen verkündet, dass jedes Fordern eines Videobeweises zwingend mit Gelb geahndet wird. Analog dazu fällt mir auf, dass ich mir in der Bundesliga seit vielen Jahren wünsche, das Fordern von Verwarnungen für den Gegner zwingend mit Gelb zu bestrafen. Das macht man zwei Spieltage lang, und dann ist das Thema durch. Aber das nur am Rande.
Wir haben noch acht WM-Spiele vor uns. Im Wettbewerb sind noch: Frankreich, Uruguay, Brasilien, Belgien, Schweden, England, Russland und Kroatien. Eine dieser Mannschaften wird sich am Ende Fußballweltmeister nennen dürfen. Hm. Frankreich hat viel Gutes gezeigt, Belgien und England auch. Brasilien eigentlich auch, aber die gehen mir irgendwie auf den Sack, wenn ihr mir diese etwas unjournalistische Wertung verzeihen mögt. Ich wünsche mir, dass die letzten acht Spiele der WM 2018 wenigstens minimal etwas geradebiegen können. Ich würde mich freuen, wenn Frankreich am Ende ein verdienter Weltmeister werden sollte, wenn doch noch etwas Glanz von Brasilien ausgeht oder wenn Belgien oder England noch für ein paar Highlights sorgen.
Ich würde mich aber auch nicht wundern, wenn es anders läuft: Dass wir uns in ein paar Jahren an diese WM 2018 zurückerinnern mit dem großen Bedauern, nicht etwas öfter einfach nur faul in der Sonne gelegen zu haben, statt uns solche Spiele anzuschauen."