Mich bewegen die Fragen, die der Zeit-Artikel aufwirft, aktuell sehr.
Meine Oma ist 90 und lebt in einem Seniorenheim, sie ist geistig total fit, körperlich hat sie zwar Einschränkungen und braucht z.B. Hilfe beim Duschen, kann aber z.B. auch noch weitere Strecken alleine zu Fuß gehen. Sie hat auch im Seniorenheim bis zu den Einschränkungen ein reges soziales Leben geführt, sie war im kleinen Städtchen unterwegs zum Einkaufen, hat viel Besuch bekommen, hatte ihren Freundeskreis im Seniorenheim, hat auch viele Mitbewohner, die z.B. bettlägrig sind, in ihren Zimmern besucht. In dem Heim gab es viele Gruppenangebote und Veranstaltungen. Wenn wir zu Besuch waren, haben wir Ausflüge mit ihr unternommen usw.
Und jetzt ist ihr Leben völlig auf den Kopf gestellt, ihr Leben im Seniorenheim ist derzeit schlimmer als im Gefängnis. Und nein, das ist keine Übertreibung: jeder unnötige Kontakt mit anderen ist unterbunden, meine Oma verbringt den Tag allein auf dem Zimmer, die Essen sind allein auf dem Zimmer einzunehmen, Kontakte mit anderen Bewohnern sind auf ein Minimum zu beschränken, sämtliche Gruppenangebote und Veranstaltungen sind eingestellt, keinerlei Besuche von außen, natürlich auch keine Spaziergänge im Städtchen, sie darf in den Garten, aber auch da natürlich möglichst mit Abstand zu anderen. Wir telefonieren viel, was aber aufgrund ihrer Schwerhörigkeit auch immer etwas schwierig ist.
Und ich merke, wie ihr die Situation inzwischen auf die Psyche geht, obwohl sie sonst relativ "hart im Nehmen ist" und sie so schnell nichts aus der Bahn wirft. Sie geht inzwischen davon aus, dass wir uns nie wiedersehen werden
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Die jetzigen Maßnahmen waren notwendig, um einen Kollaps des Gesundheitssystems zu verhindern und auch um z.B. Ansteckungen des Personals zu verhindern. Aber im Gegensatz zu mir/uns hier, haben Menschen in Seniorenheimen nicht die Perspektive, dass es bald erste Lockerungen gibt. Im Gegenteil, es scheint eher die Devise zu gelten "Schutz um jeden Preis". Meine Oma ist 90, sie hat vielleicht noch ein paar gute Monate, soll sie die wirklich schlimmer als im Knast verbringen, weil das andere so für sie entscheiden?
Ich war/bin erleichtert, dass das Seniorenheim so auf Schutz achtet und ich möchte natürlich nicht, dass meine Oma an Corona erkrankt. Aber die Aussicht, dass dieser Zustand für Risikogruppen wie sie nicht nur ein paar Wochen anhält, sondern meine Oma womöglich Monate wie im Knast weiterleben muß und es ihr dabei psychisch immer schlechter geht, ist schlimm. Man darf auch nicht vergessen, dass viele alte und sehr alte Menschen im Gegensatz zu uns hier, nicht über das Internet/Smartphone zumindest virtuelle soziale Kontakte haben, die die Situation doch etwas erleichtern.