In der klassischen Handlungstheorie handeln einzelne Menschen, als Individuen und Subjekte. Der Einzelne ist gleichzeitig Bestandteil von Gesellschaft - und umgekehrt wird "Gesellschaft" als Gesamtmenge (oder, je nach Kontext, als Schnittmenge) von Individuen gesehen.
Wenn wir nun unser Gegenüber als eventuelle Gefahrenquelle auf Distanz halten, tun wir das voll und ganz, mit dem "gesamten Gegenüber". Und die Gesellschaft leidet, weil ja alle ihre Bestandteile untereinander auf Distanz gehen.
In der Systemtheorie nach Niklas Luhmann wird die Geschichte etwas differenzierter gesehen. Und es braucht da den Begriff der "Paranoia" nicht, weil die Gesellschaft unter dem Verhalten von Individuen nicht leidet. Einfach, weil "Gesellschaft" anders interpretiert wird und nicht von Individuen abhängig ist, sondern von gesellschaftlichen Erwartungen ... die auch Individuen verinnerlichen können, weswegen sie gar nicht mehr als "gesellschaftlich" wahrgenommen werden.
Konkret werden Menschen nicht als "Einheit von Körper und Geist" gesehen, sondern als dreifaltige Wesen, gewissermassen:
1. Der menschliche Körper verhält sich biologisch und damit nicht anders als der Körper anderer biologischer Wesen (wie z.B. von Wirbeltieren)
2. Der menschliche Geist bestimmt alles Individuelle (inkl. Ängste und Hoffnungen) und ist geprägt von Wahrnehmungen
3. Der Mensch als Bestandteil von Gesellschaft ist nicht mehr individuell geprägt, sondern funktioniert als Element von Kommunikationen: Oder, in Nicht-Luhmann-Speak übersetzt: Er passt sich - besser oder schlechter - an das übergeordnete Ganze an. Weil nur so Gesellschaft funktionieren kann: Wenn sich der "einzelne" einfügt.
Natürlich gibt es jede Menge Reibungsflächen zwischen den drei unterschiedlichen Funktions- und Sichtweisen - und das Untersuchen der Konflikte zwischen den "Systemen" ist das, was Systemtheoretiker*innen hauptsächlich beschäftigt.
Im Fall des Social Distancing kann das Einführen der "dritten Ebene" helfen, um das Biologische und das Individuelle besser zu unterscheiden. Heisst: Ich fürchte meinen Nächsten niemals nie als handelndes Subjekt oder als Teil meines sozialen Umfeldes. Ich fürchte NUR seine biologische Natur, die meiner biologischen Natur womöglich einen höchst unliebsamen Virus einbrockt.